Sollen wir uns (wirklich) alle duzen?

Das mit dem DU und SIE ist so eine Sache. Maßlos hat es sich in den letzten Jahren breitgemacht, das DU in der bundesdeutschen Gesellschaft, in nahezu alle Nischen ist es gekrochen. Blickt man fünfzig, sechzig Jahre zurück, herrschten noch andere Sitten: Das SIE galt als eine Äußerung der Höflichkeit, es kommunizierte Distanz und Respekt. Jede*r Volljährige hatte das Recht, gesiezt zu werden. Trafen sich zwei Seiten zum allerersten Mal, war das SIE Pflicht. Beide Seiten konnten sich zu einem späteren Zeitpunkt auf ein DU einigen – im gegenseitigen Einvernehmen. Gleichzeitig unterlag das Angebot des DU einem hierarchischen Reglement: Der Chef durfte seinem Angestellten, der Lehrer seinen Schüler*innen das DU anbieten; der Ältere dem Jüngeren; die Frau dem Mann. Wer gegen diese Regeln verstieß, hatte ausgesprochen schlechte Manieren. Geduzt hatte man sich im familiären Umfeld, in der Verwandtschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis.

Heute hat das SIE Seltenheitswert, es ist eher Ausnahme als Regel. Der Verkäufer hinter der Ladentheke duzt seine Kundschaft, die Bedienung in der Gaststätte den Mann, der ihr Vater sein könnte. Aus den sozialen Medien ist das SIE ganz verschwunden, immer häufiger ist es auch im beruflichen Kontext nicht mehr üblich. Den Chef zu duzen, ist (fast) Normalität (geworden).

Zeitgeschichtliches

Veränderungen im Sprachgebrauch hatte es in der Geschichte immer wieder gegeben. Noch in den 1960er Jahren siezten sich die Studenten an den bundesdeutschen Universitäten, erst mit der 68er-Generation veränderte sich das Bild. Das DU wurde ein politisches Statement, war Symbol einer politisch linken, hierarchiekritischen Einstellung. Auch in der DDR war das DU ein solidarisches Bekenntnis und Ausdruck des Gleichheitsgedankens. Ähnliches findet sich in der Folge der Französischen Revolution, als das SIE abgeschafft und das DU staatlich verordnet wurde.

Seinen politischen Anstrich hat das DU verloren. Heute ist mit ihm ein junges und dynamische Image assoziiert. Wer jung und dynamisch rüberkommen möchte (oder muss), duzt. Auf Teufel komm raus. Über alles hinweg. Ungefragt.

Angesichts der fortschreitenden Globalisierung und der damit einhergehenden Vorherrschaft der englischen Sprache wird es zunehmend schwieriger, sich auf die Seite des SIEs zu stellen. Die englische Sprache kennt die Differenzierung zwischen DU und SIE nicht, alle sprechen sich mit „you“ an. Die Präsenz großer amerikanischer Firmen in Deutschland macht es leicht, das „you“ bzw. DU auch in den deutschen Sprachgebrauch einfließen zu lassen.

Auch in anderen Ländern wird (fast) ausschließlich geduzt. So zum Beispiel in Schweden. Hier wird nur die königliche Familie gesiezt, ansonsten kennt der schwedische Sprachgebrauch nur das DU. Dies trägt übrigens ein bekannter Möbelriese dieses Landes in die ganze Welt, seine Kundschaft wird ausnahmslos geduzt.

Sinnhaft – sinnlos?

Das SIE transportiert Höflichkeit und Distanz, also den Abstand, den man seinem Gegenüber zusichert. Man hält Abstand und bewahrt damit die Grenze des anderen. Und seine eigene. Was bei Auseinandersetzungen wichtig sein kann. Distanz – also das SIE – hilft dann, den Konflikt weniger an sich heranzulassen, ihn mit Abstand auszutragen.

Das DU ist persönlicher, vertrauter. Es transportiert Nähe und setzt zumindest Wohlwollen, ein Entgegenkommen voraus. Das DU ist ein Geschenk. An jemanden, den man gut kennengelernt hat, den man mag, dem man sich verbunden fühlt.

Am DU scheiden sich die Generationen und die Geschlechter. Während sich nahezu 70% der über 70jährigen an einem spontanen DU stören, finden es fast 80% der unter 30jährigen in Ordnung. Fast 50% der Frauen wollen im beruflichen Kontext lieber bei SIE bleiben, wogegen Zweidrittel aller Männer nichts gegen ein DU einzuwenden haben.

Argumente haben beide Seiten, die Befürworter des DU und seine Gegner. Insbesondere im beruflichen Kontext sorge das DU für flachere Hierarchien, baue Barrieren ab und sei die Grundlage für eine konfliktarme Arbeitsatmosphäre, sagen die Befürworter. Darüber hinaus stärke es den Zusammenhalt im Team und sorge für Offenheit gegenüber neuen Mitarbeitenden. Das DU sei ein Hochstapler, sagen seine Gegner. Es suggeriere eine Vertrautheit, die nicht existiere. Täusche Augenhöhe vor und dringe ungefragt in die Komfortzone des Gegenüber ein. Gleichzeitig lockere das DU die Zunge und breche dadurch Konflikte unter der Gürtellinie vom Zaum.

Sollen wir uns (wirklich) alle duzen?

Nein, ich finde nicht. Vielleicht wird es eines Tages überholt sein. Trotzdem, ich für mich möchte daran festhalten. Ein Stück weit. Grundsätzlich jede*n duzen möchte ich nicht. Weil im SIE etwas steckt, was ich in der Begegnung mit anderen transportieren möchte: Akzeptanz von persönlichen Grenzen, Höflichkeit im Umgang miteinander und Respekt für mein Gegenüber. Ins DU übergehen kann man jederzeit, dann, wenn es für beide Seiten passt.

Freie Lektorin | Heilpraktikerin | Soziologin M.A. | Buchliebhaberin | Anhängerin des autobiografischen Schreibens | kreative Schreiberin | CranioSacral-Therapeutin | Ehrenamtliche Vorständin im Hospizverein | Feministin | Pferdefreundin | Gärtnerin
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